Der weltweite Frauenanteil in der Wissenschaft lag 2016 bei 29,3 Prozent. Deutschland landet im Vergleich zu anderen EU-Ländern mit 28 Prozent auf dem vorletzten Platz. Jennifer Albrecht ist eine dieser Frauen, die im wissenschaftlichen Umfeld als Laboringenieurin im Fachbereich Angewandte Naturwissenschaften an der TH Lübeck arbeitet. Die studierte Biomedizintechnikerin ist vor kurzer Zeit zur stellvertretenden Gleichstellungsbeauftragten gewählt worden und führt damit ihren jahrelangen Einsatz für mehr Gleichstellung an der Hochschule fort.
Carsten Mildner ist seit dem 1. März 2022 der neue Beauftragte für Diversität an der TH Lübeck. Der Sozialanthropologe hat bereits vor und während des Studiums mit Menschen mit Behinderung gearbeitet und an der Universität Bayreuth über vier Jahre im Büro für behinderte und chronisch kranke Studierende die Hochschule und die Lehre inklusiver gestaltet. In seiner Dissertation im Bereich der Sozialanthropologie beschäftigte sich Carsten Mildner mit der Vielfalt von Gehörlosigkeit und von gehörlosen Lebenswelten in Benin, Westafrika.
Was verbinden Sie mit dem diesjährigen Motto „Break the Bias“?
Jennifer Albrecht: „Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, welche Privilegien man hat, aus welcher ‚Schublade‘ man selber kommt und was daraus für Vorurteile und Klischees entstehen. Ich glaube, dass bestimmte Klischees über Generationen gewachsen sind. Die Identifikation mit einer Generation und mit den damit verbundenen Klischees kann manchmal präsenter sein als das Vorurteil ‚das können Frauen/das können Männer‘. Aber das Schöne ist: Ich kann proaktiv dagegen angehen und Veränderung schaffen. Ich muss rückblickend sagen, dass mir mein Studium hier sehr viel geholfen hat. Dadurch, dass ich meine eigene Forschung kritisch hinterfrage, bin ich dazu aufgefordert einen Schritt zurückzugehen. Wenn man bei sich und seinen Vorurteilen anfängt, endet es bestenfalls in einer Art Kettenreaktion.“
Carsten Mildner: „Alle Menschen haben Vorurteile. Das Brechen mit den Vorurteilen bedeutet nicht unbedingt, Vorurteile abzuschaffen, sondern bewusster damit umzugehen, sich die Vorurteile klarzumachen. Es ist kein Ziel, das man erreicht, es ist eine Art, wie man Interaktion – im professionellen wie im privaten Kontext – gestaltet und lebt. Ich sehe es als die Aufgabe von Gleichstellungsbeauftragten und Diversitätsbeauftragten an, für Fragen der Diskriminierung zu sensibilisieren. Ich glaube auch, dass man hier mit Schuldzuweisungen nicht weiterkommt, sondern mit Aufklärung, Vorschlägen und Anregungen, wie man damit umgehen kann.“
Was nehmen Sie aus bisherigen Erfahrungen in die neue Aufgabe als stellv. Gleichstellungsbeauftragte und Diversitätsbeauftragter mit?
Jennifer Albrecht: Das Schöne am Bereich Medizintechnik ist, dass nicht nur die Patient*innen vielfältig sind, für die wir die Geräte bauen, sondern auch die Studierendenschaft. Sei es durch die Zuwanderung aus Syrien in Folge des Krieges über Menschen, die in der zweiten und dritten Generation durch italienische oder türkische Gastarbeiterfamilien sich hier etabliert haben. In Gesprächen merke ich, wie bereichernd diese neuen Blickwinkel sein können, die im Endeffekt auch für neue Innovationen sorgen können. Dinge, die technisch vorher nicht berücksichtigt wurden. Gleichzeitig habe ich die Studierenden immer in ihrem Sein bestärkt, sich früh ein Netzwerk auszubauen und mit ihrer Individualität zu punkten. Ich bin froh, dass verschiedene Unternehmen mittlerweile Zahlen geliefert haben, die zeigen, dass Betriebe mit einer vielfältigen Unternehmenskultur bessere Profite erzielen und erfolgreicher sind. Was natürlich nicht zum Selbstzweck werden sollte, sondern den Menschen dienen muss.
Carsten Mildner: Ich stoße auch immer wieder auf die Strategie, Diversität über Gewinn, Nutzen und Effizienz zu vermitteln. Ich finde das sehr schwierig. Sollte demnächst eine Studie herauskommen, die sagt ‚homogenere Teams arbeiten stringenter und erfolgreicher‘ – sollten wir dann nicht mehr nach mehr Diversität streben? Wir brauchen chancengerechten Zugang zu Bildung, Forschung und Arbeitswelt. Nicht weil es effizienter ist, sondern weil es richtig ist.
In Bezug auf die Frage: Aus meiner wissenschaftlichen Arbeit nehme ich die Grundsätze ethnographischer Forschung und Lehren aus der Entwicklungszusammenarbeit mit. Forschungsteilnehmende sind Expert*innen in eigener Sache. Ihr Wissen und ihre vielfältigen Erfahrungen müssen den Forschungsprozess und die Ergebnisse mitgestalten. Von außen übergestülpte Projekte sind nicht nachhaltig. Auch an der Hochschule können wir Strukturen und Gemeinschaft nur verändern, indem wir von den Erfahrungen der Einzelnen ausgehen. Und bei Inklusion geht es nicht um bestimmte Zielgruppen, Inklusion meint alle Menschen.
Jennifer Albrecht: Da stimme ich zu, aber in der Medizintechnik ist das Argument der Wirtschaftlichkeit wichtig. Noch ist Medizin nicht so divers wie man annehmen könnte. Gerade in der Entwicklung von Medikamenten und Therapieformen wird die Diversität vergessen. Dass für eine Studie der Durchschnittsmann gewählt wird und damit Seiteneffekte ausgeschlossen werden. Die Durchschnittsfrau profitiert im Endeffekt nicht mehr davon, weil die Normwerte zu hoch oder zu tief angesetzt sind. Diversität und Globalisierung sollten in diesem Punkt positiv betrachtet werden.
Carsten Mildner: Das stimmt natürlich – ist für mich aber nicht unbedingt eine Frage von Diversity Management, sondern von sauberer wissenschaftlicher Arbeit. Wenn ich wissenschaftlich arbeite, dann muss ich die Themen und Menschen, mit denen ich arbeite, richtig verstehen. Dazu gehört, dass ein Mensch nicht gleich Mann ist.
Jennifer Albrecht: Wir können durch unsere Arbeit in der Gleichstellung und Diversität zusätzliche Impulse in die Hochschule hineintragen, welche Gruppen vielleicht noch nicht so stark ihr Gehör gefunden haben. Sei es durch den Inklusionsgedanken, der oftmals nur mit Personen mit körperlichen Handicaps verbunden wird, stärker in den Fokus zu rücken oder auch Menschen, die sich weder männlich noch weiblich definieren. Mit der Gleichstellung und Diversität können und müssen wir gute Pionierarbeit leisten.
Carsten Mildner: Wenn Inklusion richtig begriffen wird, denkt sie alle Menschen mit. Diversität ist eine gesellschaftliche Realität, Inklusion ist wie wir damit umgehen sollten. Inklusion ist kein Zustand, den wir erreichen wollen, sondern sie ist vielmehr der Prozess dorthin, Vielfalt und Unterschiedlichkeit anzuerkennen und zu respektieren. Eine inklusive Hochschule grenzt nicht aus und bringt Vorteile für alle. Manche Themen sind statistisch gesehen Nischenthemen, die durch uns – und durch mich als Diversitätsbeauftragten – eine größere Öffentlichkeit und Anerkennung bekommen müssen, um nicht ausgeschlossen zu werden.
Was sind wirksame Maßnahmen für mehr Gleichstellung und für mehr Diversität?
Carsten Mildner: Was Diversität von Gleichstellung unterscheidet, ist natürlich, dass es für Gleichstellung bereits eine größere Sichtbarkeit gibt. Sowohl gesellschaftlich als auch auf der Homepage der TH und in den Hochschulmaterialien. Menschen sollen sich angesprochen fühlen, ihre Herausforderungen anerkannt findend und wissen, dass es Möglichkeiten gibt zu interagieren und sich beraten zu lassen. Wir müssen Menschen, die oft ausgegrenzt werden, proaktiv kommunizieren, dass sie willkommen sind. Hier ist viel zu tun. Ein anderer Unterschied ist, dass es Zahlen zur Gleichstellung von Geschlechtern gibt, was in vielen Fällen von Diversität nicht der Fall und auch nicht unbedingt wünschenswert ist. Ich möchte einen qualitativen Überblick darüber bekommen, was die Leute an der Hochschule für Erfahrungen machen, um den Ist-Stand zu ermitteln und um genau zu schauen, wie sich Dinge verändern können und sollten.
Jennifer Albrecht: Es gibt konkrete Projekte, die durch unsere Gleichstellungsbeauftragte Daphne Reim angeschoben wurden. Zum Beispiel ist gerade das Professorinnenprogramm gestartet, indem ein Mentoring für Frauen geboten wird, die in der wissenschaftlichen Karriere vorankommen wollen und können. Außerdem wurde eine Kooperation zur Notfallkinderbetreuung ins Leben gerufen. Hier geht es darum Vereinbarkeit von Familie und Job zu schaffen, um zum Beispiel eine Notfallbetreuung anbieten zu können. Aus dem Gleichstellungsplan, an dem wir im Moment erarbeiten, wird sicherlich auch noch einiges hervorgehen.