In diesem Wintersemester 2020/2021 fand das Format „Studierendenwettbewerb - Entwerfen 3. Semester“ der Technischen Hochschule (TH) Lübeck bereits zum elften Mal statt. Es begann mit der Ausgabe der Aufgabenstellung im November 2020, in der es um das Thema Nachverdichtung ging. „Deeply High“ – Tief eintauchen in das Thema der nachhaltigen, urbanen Verdichtung und hoch hinaus durch Wohnen in der Höhe, das wird durch Aufstockung von bereits bestehenden Gebäuden ermöglicht.
Architekturprofessor Heiner Lippe knüpfte in seiner Begrüßung zum Auftakt der Jurysitzung im Februar 2021 eine Verbindung zwischen der diesjährigen Semesteraufgabe und dem internationalen Wettbewerb Solar Decathlon Europe (SDE). Im Solar Decathlon Africa 2019 war die TH Lübeck schon einmal im Wettbewerb dabei, bei der das internationale Team ,AFRIKATATERRE‘ mit Studierenden aus dem Senegal, Marokko und Lübeck und mit tatkräftiger Unterstützung durch M.A. Stefan Gruthoff und seiner langjährigen Erfahrung in der interdisziplinären Lehre am Fachbereich den 1. Preis in der Kategorie „Architektur“ und den 2. Platz in der Kategorie „Nachhaltigkeit“ erringen konnte. „Dem Thema Nachhaltigkeit und Wohnraumgewinnung durch Aufstockung haben wir uns schon unterschiedlich genähert; diesmal werden die Ergebnisse direkt einfließen in den internationalen Wettbewerb Solar Decathlon Europe 21/22. Ich freue mich, dass Stefan Gruthoff uns auch beim Solar Decathlon in Europa wieder zur Seite steht.“ Der ‚Studierendenwettbewerb - Entwerfen 3. Semester‘ soll nach seinen Worten gleichzeitig Impulsgeber für den großen, internationalen Wettbewerb sein sowie für zukünftige Aktivitäten in urbanen wie ländlichen Räumen Schleswig-Holsteins.
Die TH Lübeck hat es gemeinsam mit der Istanbul Technical University als Team „DEEPLY_HIGH“ im Sommer 2020 geschafft, für die Teilnahme an diesem Wettbewerb nachnominiert zu werden. „Dieser Herausforderung stellen wir uns gern; interdisziplinär und weit vernetzt vertreten wir das interkulturelle Miteinander und werden im Juni 2022 ein bewohnbares Element, ein Gebäude in Wuppertal aufstellen“, ist sich Lippe sicher. Das fertige, hoch nachhaltige und innovative Gebäude bietet dann die Möglichkeit „eine fertige Pizza aus dem Ofen zu ziehen, eine warme Dusche zu nehmen, Sofakissen zurechtzurücken und den Fernseher anzuschalten“, beschreibt der TH Professor das von ihm erwartete Ergebnis. Das passiert alles innerhalb von zwei Wochen und ist dementsprechend eine sehr anspruchsvolle und große Herausforderung.
„Heute ist Ihr Tag“, begrüßte Dipl.-Ing. Angela Zett, Mitinitiatorin des Wettbewerbs, die Studierenden zum Tag der Entscheidung. „Sie haben sich elf Wochen mit dem Projekt Deeply High auseinandergesetzt (…). Heute geht es hoch hinaus“, sagt die Architektin über die finale Juryarbeit. Der Wettbewerb findet seit nunmehr elf Semestern mit immer wechselnden Aufgabenstellungen statt. In diesem Jahr, wie schon Jahre zuvor, waren die NEUE LÜBECKER (Norddeutsche Baugenossenschaft eG) und das Kieler Architekturbüro NEUWERK als Auslober beteiligt.
39 Architekturstudierende des 3. Semesters im Fach Entwerfen und Baukonstruktion stellten sich in Einzelarbeit oder im Zweier-Team dieser besonderen Aufgabe: durch Aufstockungen auf Gebäuden eines bestehenden, meist zweigeschossigen Wohnensembles der 60er Jahre galt es, eine zukunftsfähige Wohnatmosphäre zu schaffen. Die Studierenden sollten zudem die Nachhaltigkeit im großen Zusammenhang denken – mit den Menschen, den Gebäuden, den dazugehörigen Außenflächen unter Beachtung der Gesamtlage sowie der Nachbarschaft und der vorhandenen Infrastruktur.
„Das Plangebiet ist typisch für die 60er Jahre: mehrere zwei- und dreigeschossige Gebäude auf einem Baugrundstück, die vor allem energetisch gesehen in die Jahre gekommen sind“, so Lippe. Dass Konzepte für diese Art von Wohnkomplexen erforderlich sind, ergibt sich schlicht durch die Anzahl: „Wir sprechen von einem Mengenthema. Diese Gebäude wurden zu zehntausenden gebaut, man geht bundesweit von einem Potential durch Aufstockungen in Höhe bis zu 1,5 Millionen Wohneinheiten aus“, erklärt der Professor weiter.*
Besondere Aufmerksamkeit wird der beispielhaften energetischen Ertüchtigung (nach EnEV/GEG) des Bestands gewidmet. Die innovative Aufstockung in zukunftsweisender Holzbauweise schafft den gewünschten zusätzlichen Wohnraum.
Neben der energetischen Ertüchtigung, soll auch eine soziale Komponente, in der Mensch und Umwelt gleichermaßen genügend Raum finden, bewusst berücksichtigt werden. Nach Wochen der intensiven Auseinandersetzung mit der gestellten Aufgabe haben sich die Studierenden in 22 Arbeiten dem Wettbewerb und der externen Bewertung gestellt, die traditionell durchgeführt wurde von den Vizepräsidenten der Architekten-und Ingenieurkammer Schleswig-Holstein und der Architektenkammer Niedersachsen sowie diesmal auch mit der Präsidentin der Hamburger Architektenkammer. Vertretungen der Wohnungswirtschaft sowie freier Architekturbüros komplettierten die hochrangige, kompetente Jury.
„In 77 Tagen haben die Studierenden zahlreiche analytische Studien betrieben: Wohnen im Quartier Analysen der Gebäudearchitektur, rechtlich bindende Vorgabengesetze, Grenzen und Möglichkeiten von Konstruktion und Bestandsstatik, bis hin zu sozialen, kulturellen und psychologischen Aspekten. Eine Entwurfsplanung von Wohnungen und Häusern in dieser Art und Weise erfordert eine hohe Akzeptanz vor allem der bisherigen Bewohner. Also sehr eine anspruchsvolle Aufgabe“, umriss Dipl.-Ing. Angela Zett die vielfältigen Gebiete, mit denen sich die Studierenden bei dieser hochaktuellen Aufgabenstellung zu befassen hatten.
Der aus Hamburg zugeschaltete Vorstandsdirektor des Verbandes der Norddeutschen Wohnungsunternehmen e.V., Dipl. Verww. Andreas Breitner, beschrieb in seinem Grußwort die hohe Aktualität des Wettbewerbsthemas: „Aus unserer Sicht trifft die Aufgabenstellung den richtigen Nerv. Wir haben in Deutschland ein Problem: wir haben schlichtweg zu wenig Wohnraum! (…) Wenn man heute beispielsweise nach Hamburg, nach Lübeck oder in andere Städte gucken würde, dann ist die Fläche endlich. Und man muss sich die Frage stellen: Wollen wir immer weitere Flächen versiegeln?“, gibt er zu bedenken. „Wie gelingt es, diesen Wohnraum, entstanden in den 60er und 70er Jahren, zu modernisieren, instand zu halten aber auch ihn zu erweitern? Da setzt Ihr Wettbewerb ein. Das sind genau die Überlegungen, die in der Praxis angestellt werden. Und wenn Ihr Wettbewerb Hinweise oder gar Lösungen anbietet, dann ist es für uns extrem wertvoll“, betont Vorstandsdirektor Breitner und stellt die Verbandspublikation als Multiplikator der Ergebnisse an die Mitgliedsunternehmen in Aussicht.
Anschließend begaben sich die Jurymitglieder, namentlich waren es in diesem Jahr in willkürlicher Reihenfolge Carsten Burghardt, Dipl. Ing. Architekt, PPP Architekten + Stadtplaner GmbH, Lübeck und Hamburg; Christoph Edler, Architekt MSc., NEUWERK-Architekten, Kiel; Christoph Schild, Dipl. Ing. Architekt und Vizepräsident Architektenkammer Niedersachsen, Präs. BDB; staatl. Baumanagement Niedersachsen; Georg Conradi, Dipl. Ing. Architekt, Aufsichtsrat NEUE LÜBECKER Norddeutsche Baugenossenschaft eG, Lübeck; Hans-Ulrich Zöllner, Architekten BDB, Hamburg; Henning Klattenhoff, Dipl. Bauingenieur, Assmann Planen und Beraten; Hamburg; Jochen Dohrenbusch, Dipl. Ing Architekt, NEUWERK-Architekten, Kiel; Karin Loosen, Dipl. Ing. Architektin, Präsidentin der Architektenkammer Hamburg, LRW Architekten und Stadtplaner Loosen, Rüschoff + Winkler PartG mbB, Hamburg; Petra Memmler, Dipl. Ing. Architektin, Ref. für Technik/Energie im Verband der Norddeutschen Wohnungsunternehmen, Geschäftsführerin VNW-LV Hamburg e.V. und Reinhold Wuttke, Dipl. Ing. Architekt, Vizepräsident AIK Schleswig-Holstein, Wuttke Architekten-Studio 42, Neumünster (Juryvorsitz), in die online Durchgänge.
Nach fast zehnstündiger Begutachtung und entsprechendem Austausch stand das Ergebnis aus den insgesamt 22 Einreichungen fest. Unabhängig vom Preisgeld erhielt jedes abgegebene Projekt 50 Euro als Anerkennung für die Teilnahme und geleistete Arbeit.
Nach dem Diskussionsmarathon kam die Jury zu folgendem Ergebnis:
Der erste Preis ging an das Team „Haus auf Haus“ in der Besetzung Vanessa Grohn und Marina Rjadnowa, dotiert mit 500 Euro. „Der Entwurf“, führten die Studentinnen aus, „beschäftigt sich mit einer zeitgemäßen, aber zugleich harmonischen Aufstockung.“ In seiner klaren Formsprache bedient er sich dem Bild eines Hauses mit Satteldach, welches auf das Bestandsgebäude gesetzt wird. Dieses Bild wird noch verstärkt, in dem die Aufstockung eine sinnbildliche eigene Bodenplatte erhält, die über den Bestand auskragt und als Installationsebene genutzt wird. Durch den Rücksprung in der Fassade der Aufstockung, wird die Abgrenzung zum Bestand noch deutlicher und es entstehen teilweise umlaufende Freitritte beziehungsweise Loggien, die entscheidend zur Atmosphäre des Entwurfes beitragen und den Bezug nach Außen herstellen.
„Absolut toll“, war die Meinung des Juryvorsitzenden Wuttke. Die Jury konnte dem folgen und begründete ihre Entscheidung mit der geschickten Eingangssituation. Die Arbeit hat vom ersten Bewertungsdurchgang überzeugt. Die Jury lobte eine perfekt durchdachte Arbeit und die besondere Atmosphäre, die der Entwurf erzeugt. Er besteche nicht nur durch Perfektion, sondern auch durch seine besonders feine Materialität.
Der zweite Preis, dotiert mit 300 Euro, ist eine Einzelarbeit mit dem Titel „Woodstock“ und ging an Yannik Schümann. Die hier zu Grunde liegende Idee: „Der Gebäudebestand wird um ein Geschoss und Staffelgeschoss aufgestockt. Dazu wird das bestehende Satteldach abgebrochen. Ein Ringanker aus Konstruktionsvollholz soll die auftretenden Lasten gleichmäßig auf die Bestandswände verteilen und die Decke ertüchtigen (…). Die Aufstockung erfolgt mittels vorgefertigter Raummodule aus Brettsperrholz, die gestapelt werden und so die Bauzeit reduzieren. Zwei Modulgrößen geben die Raumprogramme der zwei Wohnungstypen vor.“ In dieser Arbeit betonte die Jury die geschickte Umsetzung des Laubengangs und die raffiniert gewählten Grundrissausschnitte. Zudem lobt sie die konstruktive Durcharbeit und Statik.
Der dritte Preis, dotiert mit 200 Euro, ebenfalls unter dem Titel „Wood Stock“ dennoch anders konnotiert, ging an Carolin Bogalski und Lennart Seitz. Den Mut, bewusst auf eigene Vorstellungen zu setzen und konventionelle Lösungen zu vernachlässigen, hat die Jury besonders herausgestellt. Die Idee ist es, beschrieben die zwei Studierenden ihren Entwurf: „die Bestandsgebäude mit ein bis zwei Stockwerken aufzustocken, die in Holzrahmenbauweise ausformuliert sind (…). Durch die variable Kombination unterschiedlicher Grundrissvarianten entsteht ein spannendes, abwechslungsreiches Fassadenbild. Die Verwendung der unterschiedlichen Grundrissvarianten kann ebenfalls dem derzeitigen Bedarf angepasst werden. So bietet das Konzept die Möglichkeit einer Durchmischung verschiedener individueller Nutzung.“ Die Jury lobte die hohe Motivation, auch mit Blick auf spätere berufliche Tätigkeit und Teilnahme an Wettbewerben. Damit ermutigte die Jury die Studierenden, eigene Lösungen anzubieten, wenn diese passender erscheinen.
Das Team Alexander Pfleiderer und Skrollan Völkel erhielt für seinen Entwurf „Tanzende Dächer“ eine Anerkennung, dotiert mit 100 Euro. Besonders die grafische Darstellung hat überzeugt. „Ein wirklich schöner, grafisch gezeichneter Grundriss“, begründete Wuttke die Anerkennung. Besonders gut kam die gelungene Gestaltung der spannenden Dachlandschaft an.
Eine weitere Anerkennung zu 100 Euro ging an das Team „Roof Shaping“ in der Besetzung von Livia van Oven und Isa Marie Zorn. Die Idee, eine neue „Landschaft von kleinen Häusern“ auf dem Bestand entstehen zu lassen, wurde gewürdigt. Die Umsetzung im Holzbau sei komplizierter, es wäre aber eine sehr mutige und sehr ausgefallene Konstruktion, lautete die Begründung.
Die Sitzung fand in Zeiten von Corona nicht in Präsenz statt, sondern im Rahmen einer Online-Konferenz. Die Studierenden waren eingeladen, den Bewertungsrundgängen stumm an ihren Bildschirmen zu folgen. So konnten sie die Bewertungskriterien nachvollziehen und verfolgen, wie die Jury zu den Urteilen gekommen ist.
Weitere Informationen
*) Einer Deutschlandstudie der TU Darmstadt und des Pestel Instituts Hannover von 2019 zufolge, „fehlt es (...) in Deutschland vorrangig in den schnell wachsenden Regionen an bezahlbarem Wohnraum. Zusätzlich führen neue Wanderungsmuster zu einer Umverteilung der Bevölkerung im Bundesgebiet und in den Städten. Die Schätzungen weisen einen Bedarf von 1,2 bis 1,45 Mio. Wohnungen in diesen Regionen aus. Als Regionen mit hohem Wohnungsbedarf wurden dabei alle Gebiete bezeichnet, in denen der Leerstand Ende 2018 unterhalb von 3,0 % des Wohnungsbestandes lag. Wo und in welcher Form soll also kostengünstig der dringend benötigte Wohnraum in diesen Wohnungsmärkten entstehen? Um dem wachsenden Bedarf an Wohnraum bei gleichzeitiger sparsamer Inanspruchnahme der Ressource „Bauland“ zu begegnen, sind Strategien der Innenentwicklung und Nachverdichtung notwendig. Mit konservativen Annahmen von Mengen, Flächen und Verdichtungsschlüsseln, stellen sich die Potenziale für bezahlbaren Wohnraum sowie die dazu gehörige soziale Infrastruktur (…) in der Gesamtheit mit ca. 2,3 Mio. bis 2,7 Mio. Wohnungen (...) dar.“