Erstellt von International Office
Seit 2012 kooperiert der Fachbereich Bauwesen der Technischen Hochschule (TH) Lübeck mit der Nationalen Jurij-Fedkowytsch-Universität Czernowitz in der Ukraine. Im Rahmen verschiedener Förderprojekte kamen weitere Hochschulen hinzu, so dass ein breites Netzwerk von Hochschulen in der Ukraine aufgebaut werden konnte, das seit 2017 auch im Erasmus+ Programm gefördert wird. Das Bildungsprogramm Erasmus+ der Europäischen Union (EU) soll die internationalen Kompetenzen, die persönliche Entwicklung und Beschäftigungsfähigkeit von Studierenden stärken, die Attraktivität der EU als Studien- und Wissenschaftsstandort steigern und zur nachhaltigen Entwicklung der Hochschulbildung in Drittländern beitragen. Im Zentrum steht dabei die Förderung der Mobilität zu Lernzwecken, für die eine finanzielle Förderung für Aufenthalts- und Reisekosten vergeben werden kann.
Im Sommersemester 2020 studierte trotz der Covid-19 Einschränkungen ein erster Student der TH Lübeck an der Kyiv National University of Construction and Architecture (KNUBA). Im Folgenden berichtet der Student Aleksander Ostrovskis über seine Eindrücke aus dem Auslandsaufenthalt:
Wie es dazu gekommen ist
Ich bin auf den Austausch aufmerksam geworden als ich beim International Office nachgefragt habe, welche Möglichkeiten es für einen Austausch in meiner Fakultät gibt. Zur Auswahl im Bereich Architektur standen Venedig, Kiew und Lviv. Natürlich habe ich die Gelegenheit in Venedig zu studieren sofort stark romantisiert und mich über die von dem International Office zur Verfügung gestellten Unterlagen für Venedig beworben. Allerdings wurde mir mit der Zeit klar, dass man bei einem Austauschprogramm auf jeden Fall, zumindest auf einem geringen Niveau, die Sprache beherrschen sollte und ich leider absolut keine Italienischkenntnisse habe. Auch wurde mir klar, dass die Wohnsituation in Venedig schwierig ist und dass ich generell mit meinen Interessen, Hobbys und meinem osteuropäischen Hintergrund in Kiew viel mehr Potenzial habe, die Jugendkultur kennenzulernen und neue Freunde zu finden als in Venedig. Zum Glück konnte ich das Ziel der Reise noch rechtzeitig ändern und habe mich darauf eingestellt, die Ukraine zu besuchen, in der ich noch nie in meinem Leben gewesen bin.
Nach der Zusage aus Kiew begann eine etwas hektische Phase, in der viele formale und bürokratische Dinge vorbereitet werden mussten. Dazu gehörte das Übersetzen meiner Unterlagen ins Ukrainische, Bewerben auf das Studentenvisum und viele, viele weitere Papiere, um meinen Aufenthalt für einen längeren Zeitraum möglich zu machen. Glücklicherweise hat alles funktioniert, ich bekam ein Visum und durfte ab Februar meine Reise beginnen.
Die Hinreise
Da ich generell ein reisefreudiger Mensch bin, allerdings nicht gerne fliegen mag, begann ich nach einer Zugverbindung zu suchen. Ich fand die Möglichkeit über Berlin und Warschau zu fahren, was letztendlich ziemlich bequem und sogar ein bisschen abenteuerlich war.
Das Gefühl in einem Coupé aufzuwachen und hinter dem Fenster vorbeiziehende, unter Schnee bedeckte ukrainische Städte zu sehen, ist keinesfalls mit den langweiligen 2 Stunden im vollgepackten Flieger zu vergleichen. In Kiew wurde ich sehr herzlich empfangen; erst von einem Zollbeamten mit Hund, dann von einem fabelhaft schönen Hauptbahnhof und letztendlich von Tetyana, die das Austauchprogramm an der KNUBA koordiniert hat. Nach einer viertelstündigen Taxifahrt in einem Wagen ohne Sicherheitsgurte (eine sehr beunruhigende Angelegenheit bei osteuropäischen Autofahrer) wurde ich erstmal zum Studentenwohnheim gebracht und danach in die Universität.
Unterkunft
Ein paar Worte sollte ich auf jeden Fall meiner Wohnsituation in Kiew widmen, da die sich ziemlich außergewöhnlich entwickelt hat. Meine erste Station in der Stadt war das besagte Studentenwohnheim. Nur 2 Minuten von der Uni entfernt und für unglaubliche 20€ im Monat wäre es eigentlich das Non-Plus-Ultra. Aber der Zustand des Wohnheims bewog mich, dort nicht zu bleiben. Nach ca. 2 Stunden und einigen Anrufen saß ich schon im Bus auf dem Weg zu meiner nächsten Unterkunft. Dies war ein Zimmer in der Wohnung einer älteren, mir ziemlich fern bekannten Dame (Mutter einer Freundin der Frau meines Bruders, um ganz genau zu sein). Diese Dame war so nett und ließ mich bei ihr für einen bezahlbaren Preis wohnen und kochte mir sogar täglich etwas. Die Lage war nicht zentral, jedoch glücklicherweise zu Fuß von der Universität aus erreichbar. Im Großen und Ganzen war ich sehr froh, dort 2 Monate meines Aufenthalts verbracht zu haben. Danach wohnte ich in einem, aufgrund der Pandemie freigewordenen Hostel, mitten im Zentrum der Stadt und blieb dort für 3 Monate. Dort konnte ich auch während des Lockdowns an den Projekten für das Studium arbeiten. Den letzten Monat verbrachte ich auf kleineren Reisen durch das Land hauptsächlich auf Sofas von Freunden.
Studium an der Gasthochschule
Nun kommen wir zum Studium und zu dem Austauschprogramm an sich. Das System in der Ukraine ist ziemlich anders als an der TH. Also musste ich erstmal für mich klarstellen, wie alles aufgebaut ist. In einer Fakultät, z.B. in der Architektur, gibt es unterschiedliche „Lehrgänge“ mit Schwerpunkten in bspw. Design, Stadtplanung oder Planung. Viele Vorlesungen dieser Lehrgänge finden aber bei denselben Lehrenden statt. Dann gibt es eine Unterteilung in Kurse. Ein Kurs heißt in dem Fall ein Studienjahr von September bis Juni, bestehend aus 2 Semestern und mit einem vorgeschriebenen Fächerprogramm, das in der richtigen Reihenfolge bestanden werden sollte. In jedem Kurs gibt es 2-3 Gruppen (unter anderem Gruppen für internationale Studierende), die jeweils in Werkstätten unterteilt sind. In jeder Werkstatt sind 3 Professor*innen bzw. Tutor*innen und ca. 6 Studierende. In dieser Formation verbleiben die Studierenden während des ganze Bachelorstudiums; sie arbeiten an den Projekten zusammen mit den selben Professor*innen - vom 1. Kurs bis hin zum Diplom. Es ist anzumerken, dass pro Semester 2 Projekte bearbeitet werden und jedes Projekt wird nicht nur von einem Professor, einer Professorin bewertet, sondern von allen Professor*innen zusammen. Man arbeitet auch nicht in Gruppen/ Teams wie an der TH Lübeck, sondern immer eigenständig.
Das Studium ist offiziell auf Ukrainisch. Doch wenn es für die Studierenden verständlicher und einfacher ist, werden bestimmte Fächer auf Russisch unterrichtet. Da ich Russisch relativ gut reden und verstehen kann, allerdings kein Wort Ukrainisch spreche, war es anfangs etwas schwierig in den Fächern inhaltlich dabei zu sein, die nur auf Ukrainisch gelehrt wurden. Doch nach einiger Zeit konnte ich immer mehr verstehen und sogar in den Fächern, die nur auf Ukrainisch gelehrt wurden, mit guten Noten abschließen.
Ich hatte großes Glück, dass ich die meisten Fächer an der TH Lübeck bereits abgeschlossen hatte. So konnte ich mir aus dem gesamten Angebot der vier Bachelor-Kurse die Fächer aussuchen, die ich am interessantesten fand. Ich wählte zum Beispiel einen Zeichenkurs aus dem 1. Semester und zeichnete zusammen mit 17-jährigen Kommiliton*innen ein Stillleben, und wählte aus dem 8. Semester das Fach Architekturpsychologie. Vermehrt hatte ich jedoch mit den Kommiliton*innen aus dem 5. Semester zu tun, mit denen ich mich auch in meiner Freizeit getroffen habe.
Von dem Niveau der ukrainischen Studierenden war ich sehr überrascht und fasziniert. Sie lieferten sehr gute Ergebnisse und gingen vor allem sehr sicher mit den Darstellungstechniken um, ob digital oder beim Zeichnen. Das mag wohl daran liegen, dass die Eignungsprüfungen ziemlich hart sind und eine künstlerische Voraussetzung durchaus notwendig ist. Zum anderen wird das Studium von vielen Studierenden nicht als Hauptbeschäftigung angesehen, sondern eher begleitend zu den praktischen Erkenntnissen, die sie durch Arbeit im Büro erlangen. Es war für mich eine sehr große Herausforderung an das hohe Niveau der Studierenden ranzukommen und war sehr überrascht, dass es mir teilweise gelungen ist. So kann ich stolz sagen, dass ich in diesem Austauschsemester Wissen erlangt habe, welches eine stabile Grundlage für mein zukünftiges Arbeitsleben bildet und für meine nächsten Projekte unersetzlich ist.
Zu den besonders interessanten Fächern gehörte zum Beispiel die Kunstgeschichte, wodurch ich gelernt habe, die Kunstwerke den entsprechenden Epochen und Künstler zuzuordnen. Oder ein Fach in dem ich zum Abschluss realistisch aussehende Renderings mit 3Ds Max kreieren konnte.
Die Pandemie beeinflusste das Studium ziemlich stark. Ab Mitte März gab es kein Präsenzunterricht mehr, doch wurde relativ schnell auf Online-Lehre umgestellt. So konnte ich problemlos an meinen Projekten weiterarbeiten, an Konsultationen teilnehmen und mich bei allen Fragen an die Professor*innen wenden. Die Lehrkräfte hatten viel Enthusiasmus und Motivation mir zu helfen und ich war sehr überrascht, stundenlange Gespräche über das Lernthema führen zu können. Ich möchte auch erwähnen, dass in meinen Projekten noch nie so viele Fehler gefunden wurden, wie bei den Konsultationen mit den ukrainischen Professor*innen. Es war sehr unangenehm, doch so bekam ich eine Sicherheit, dass ich tatsächlich etwas lerne und das Projekt realitätsbezogen ist.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich aus dem Austausch, trotz der schwierigen Situation, sehr viel mitnehmen konnte und den Lehrkräften unendlich dankbar bin!
Alltag und Freizeit
Für die Freizeit hat Kiew ziemlich viel zu bieten. Vor allem vor der Pandemie hatte ich viel Gelegenheit, neue Menschen und die Kultur der Stadt in Konzerten, Clubs und Bars kennenzulernen. Neben urban exploring und dem Erkunden der Innenhöfe der Stadt, um sie auch mit den Augen der Bewohner*innen zu sehen, besuchte ich in den ersten Tagen natürlich die bekannten Sightseeing-Objekte. Daneben fand ich auch Orte, in denen sich kreative Menschen der Stadt treffen, zum Beispiel eine DIY Noiserock Bar im Keller oder den sogenannten Kulturpalast, wo viele spannende Veranstaltungen stattfanden. Dort schaute ich öfter vorbei.
Nach dem Lockdown verbrachte ich natürlich viel Zeit zuhause, ging aber täglich Joggen und konnte auf diese Art und Weise etwas die Stadt erobern. Während des Lockdown wohnte ich, wie oben erwähnt, bei einer älteren Dame, die zur Corona-Risikogruppe gehört. Deshalb bin ich zu einem Freund in das leerstehende Hostel gezogen.
Alle Veranstaltungen wurden online gestreamt und viele hatten schöne Videoeffekte als visuelles Medium. Ich entdeckte für mich die computergenerierte Visualisierung. Die Medientechnologie wurde zu meinem neuen Hobby. Ich lernte einige Kollektive kennen, die sich damit auseinandersetzen und habe viel von ihnen gelernt.
Nach einer gewissen Zeit endeten die Corona Maßnahmen und Bars, Cafés und Restaurants öffneten ihre Sommerterrassen. Bei tollem Wetter verbrachte ich viel Zeit mit Freunden und Kommilitonen, z.B. auf den Inseln mit Stränden und lebte dort das Beach Life. Mittwochs traf ich mich immer mit einer Gruppe junger Menschen zu einer Teezeremonie.
Nachdem ich alle meine Projekte abgegeben und bestanden hatte, bin ich für einen Monat durch die Ukraine gereist. Per Anhalter kamen eine Freundin und ich nach Lviv, von wo aus wir ins Gebirge zum Wandern fuhren. Weiter ging es mit dem Zug nach Odessa, eine Hafenstadt am Schwarzen Meer. Man munkelt, dass Gott gelächelt hat, als er Odessa erschuf. Dies ist eine wirklich unglaublich schöne Stadt, in der ich viele tolle Momente verbracht habe. Die letzten Tage in Kiew mit meinen Freunden vergingen sehr schnell und ich war sehr traurig, dass ich die Ukraine schon wieder verlassen musste.
Fazit
Abschließend kann ich sagen, dass die Teilnahme an dem Austauschprogramm eine der tollsten Entscheidungen meines Lebens war. Ich konnte nicht nur neue Hobbys entdecken und viel für mein berufliches Leben mitnehmen, sondern habe auch großartige Menschen kennengelernt.
Es wäre fair zu erwähnen, dass einige Punkte mit großer Vorsicht betrachtet werden müssen. Zum Beispiel der Trend sich nicht anzuschnallen im Auto oder der große Kontrast zwischen arm und reich, vor allem aber der medizinische Standard. Dies sind Dinge, die sich stark von Deutschland unterscheiden.
Ich muss auch erwähnen, dass ich nicht gewusst hätte, wie ich ohne Russischkenntnisse das Programm hätte bestehen können. Das war für mich ein sehr großer Vorteil. Allerdings war Tetyana anfangs auch darauf vorbereitet, dass ich vielleicht nur Englisch sprechen würde. Also hätte es bestimmt irgendwie funktioniert.
Ich bin sehr froh, den Austausch angetreten zu haben und möchte bald wieder nach Kiew reisen.
Text und Bilder von Aleksander Ostrovskis.
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